Gegen das Aufgeben

von Katharina Fiedler & Jenida Vladi

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Elsa Vakos schiebt den gelben Vorhang zur Seite und zeigt auf das Fenster dahinter. Die Scheibe ist zerbrochen. Gerade hier, wo alle sechs der Familie Vakos schlafen. Gerade jetzt, wo der Winter bald kommt. Die zierliche Frau trägt ihre Tochter Megi auf dem Arm, stützt das Gewicht der Dreijährigen auf der Hüfte ab. Zwei Schritte weiter aus dem Schlafzimmer hinaus und der kleine Flur ist durchquert. Elsa, 27 Jahre alt, steht jetzt in dem Raum, in dem eine Hocktoilette in den nackten Steinboden eingelassen ist. Der Boden klebt. Es riecht schimmelig. Außer einem kleinen Waschbecken gibt es keine Waschmöglichkeit. Aus einem dicken Rohr in der oberen rechten Ecke tropft sekündlich Wasser. Elsa zeigt traurig auf die Stelle, an der sich am Boden ein kleiner Hügel aus Dreck und Kalk gebildet hat. Das ist kein Badezimmer, kein Ort, an dem Kinder groß werden sollten. Das ist kein Zuhause. Doch es ist alles, was sie haben.

Knapp 20 Quadratmeter für drei Kinder, Oma Aspasi und Elisas neuen Freund. Bald kommen der Wind und der Regen. Und die Decken und Kissen werden klamm. Auf einem kleinen Gaskocher direkt neben dem Sofa im kleinen Wohnzimmer kocht ein schwarzer Topf voller Wasser. Eine Küche gibt es nicht. Genug Essen auch nicht. Die Kinder gehen nicht zur Schule. Familie Vakos ist arm. Wie ihre Nachbarn. Wie die Familie gegenüber. Wie so viele hier in Pogradec.

Zerbrochene Scheiben, keine Sanitäranlagen, keine Heizung: Manche Familien in Pogadec leben in Häusern, die eigentlich nicht bewohnbar sind. Im Januar fallen die Temperaturen hier unter null Grad.
Einige Häuser haben kein fließend Wasser und keine Toilette. Andere kochen draußen. Zwanzig Prozent der Familien in Pogradec leben in Armut.
Besonders schwer trifft es Familien, die Minderheiten angehören. Wie dieses Haus einer Roma-Familie. Wenn Familien ohne Sozialhilfe auskommen müssen, gehen die Kinder an vielen Tagen hungrig ins Bett.
Nur ein paar Minuten Fußweg entfernt liegt die Promenade des Ohridsees. Im Sommer kommen Badegäste und Touristen in die Zwanzigtausend-Einwohner-Stadt.
Im Sommer tummeln sich Touristen am weißen Sandstrand des Ohridsees. Jetzt, im Herbst, ist wenig los. Männer treffen sich zum Brettspielen. Paare spazieren die Promenade entlang.

Wenige hundert Meter weiter schließt Genti Cela sein kleines Büro am Europa-Boulevard auf. Gekonnt schlängelt sich der 30-Jährige durch das Chaos auf dem Boden bis zu einem Schreibtisch am Ende des Raumes, hinter dem der albanische Doppeladler prankt. Cela greift in einen der vielen Kartons, holt eine Packung Linsen heraus und packt diese in einer weiße Plastiktüte. Dann eine Packung Nudeln, zwei Flaschen Öl, ein Beutel Reis. Flink knoten seine Hände die Tüte zu und die nächste Tüte ist an der Reihe.

Seit drei Jahren engagiert sich Genti Cela für arme Familien in Pogradec und der umliegenden Region Korca. Er kümmert sich, wenn jemand krank ist und Medikamente braucht, hört zu, wenn die Eltern erzählen, dass ein Sohn im Gefängnis sitzt. Manchmal baut der 30-Jährige, zusammen mit anderen Ehrenamtlichen, armen Familien ein Haus. Doch vor allem bringt er jedes Wochenende gespendete Lebensmittel und Kleidung in die Häuser der Familien.

Als Koordinator einer albanischen Hilfsorganisation, die übersetzt „Das andere Wochenende“ heißt, hat er die Hilfe professionalisiert und einen Kreis Ehrenamtliche um sich versammelt. Statt ans Meer oder in die Berge zu fahren, engagieren sich im Großraum Korca Freiwillige, um ein anderes Wochenende zu verbringen, eines, das anderen Menschen hilft. Sie sammeln Lebensmittelspenden und Kleidung ein, helfen mit Dokumenten und Anträgen und verteilen die Spenden. Bevor eine Familie regelmäßig Hilfe erhält, prüft Cela, ob sie Anspruch darauf haben. Er erkundigt sich, ob sie so arm sind, dass sie Sozialhilfe bekommen, oder ob sie, wie viele Roma-Familien, auf sich allein gestellt sind. Zu viele hätten schon versucht, Lebensmittel zu erhalten, obwohl es ihnen doch noch gut gehe, erklärt Cela.

In Celas Büro ist es schwer, geradeaus zu gehen. Auf dem Boden stapeln sich unzählige Kartons und Tüten voller Lebensmittel. Zahnbürsten und Zahnpasta liegen auf seinem Schreibtisch. Dahinter hängt der schwarze Doppeladler der albanischen Flagge.
Spagetthi, Öl und Linsen packen Genti Cela und seine beiden Helfer in Tüten ein.
Ob Zahnbürsten, Duschbad oder Hygieneartikel. Vielen armen Familien fehlt es an einfachen Dingen.
Die Spenden kommen Kindern wie der dreijährigen Megi der Familie Vakos zu Gute.
An den Wochenenden bringen Ehrenamtler die Spenden zu bedürftigen Familien, so wie hier in einer Roma-Siedlung in Pogradec.

Ein Auto hält vor dem Haus der Familie Vakos. Elsas Tochter Pamela rennt freudestrahlend nach draußen und fällt Genti Cela und seinen beiden Helfern in die Arme. Sie sind wieder da! Endlich Abwechslung! Endlich jemand zum Spielen. Was ihre Mutter Elsa denkt: Endlich wieder Nudeln, Reis, Linsen, Öl. Vielleicht auch ein Pullover für die Kinder.

Vor dem Haus der Familie Vakos löst sich Genti Cela von den Umarmungen der Kinder, macht den Kofferraum auf und bringt Tüten voller Lebensmittel und Kleidung hinein. Im kleinen Wohnzimmer mit den zwei Sofas und einem Sessel stellen Cela und seine Helfer die Türen auf den Boden. Die kleine Megi lässt sich aufgeregt darauf plumsen.

Pamela setzt sich auf Genti Celas Schoß. Auch ihr großer Bruder Nikolas sucht seine Nähe. Elsa erzählt, dass sie nur die Pension ihrer Mutter hätten, um zu überleben. Arbeit hätten sie keine, weil es in Pogradec einfach keine Arbeit gäbe. Ihr Sohn Nikolas gehe auch nicht zur Schule. Cela hört aufmerksam zu, nickt. Megi hat in den Tüten Linsen und Spaghetti entdeckt. Pamela hüpft zu Inva Sherro, eine von Celas Helferinnen, und spielt mit ihren langen, braunen Haaren.

Oma Aspari hält Celas Arm fest und sagt. „Er ist wie einer meiner Söhne. Wenn er uns hilft, dann bringt er die Wärme in unser Haus.“

Dass Genti Cela in einer der ärmsten Städte in Albanien aufgewachsen ist, sieht man ihm nicht an. Über seinem roten Strickpulli trägt er ein grau meliertes Jackett, das er sofort auszieht, wenn es irgendwo anzupacken gilt. Die Schuhe sind aus Leder, die Haltung gerade. Er weiß sich auszudrücken, benutzt viele Metaphern und hat einen Teil seines Jura-Studiums im benachbarten Mazedonien verbracht. Seine Botschaft scheint klar zu sein: Genti Cela hat noch Hoffnung. Für die Familien, für diese Stadt, für sein Land und auch für sich selbst „Wer Albanien verlässt, hat aufgegeben“, sagt er. Und hofft dabei, dass die, die gehen, eines Tages zurückkommen und ihren Beitrag leisten. Alle zusammen könnten aus Pogradec einen besseren Ort machen. Diese Stadt hätte doch alle Möglichkeiten, sagt Genti, mit Tourismus die Menschen hier zu ernähren. Die Luft ist klar und frisch, das Klima maritim und das Panorama, welches man vom Strand des Ohridsees Richtung des Galiciagebirges erblicken kann, lässt einen innehalten. Hier hat er schwimmen gelernt, hier erlebte er eine wunderschöne Kindheit, erzählt er. Hier sei es doch so wunderschön.

Pogradec – ein Ort, an dem man gesund und glücklich leben könnte. Eigentlich. Doch die Menschen sind arm, die Arbeitslosenquote hoch. Fast alle in Celas Alter haben dem Land den Rücken zugekehrt. So scheint es schwer, optimistisch zu sein. Doch eines möchte Genti Cela nicht: sich der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit dieses Ortes hinzugeben.

Am kommenden Wochenende wird Genti Cela wieder Tüten packen, den Kofferraum bis zum Dach füllen und zu Familien in Pogradec und den umliegenden Dörfern fahren. Er wird wieder in dunklen, muffige Zimmern sitzen, er wird ihnen zuhören und das Leid für einen kurzen Moment teilen. Und wenn immer weniger Menschen die Stadt verließen, sondern gemeinsam mit anpacken würden, gemeinsam was aufbauen würden, dann könnte Pogradec in ein paar Jahren schon ganz anders aussehen. Genti Cela wird nicht aufgeben. Hoffnung, sagt er, gibt es immer.